Von Zentralasien bis Turkestan: Herausforderungen und Chancen für Armenien

Kürzlich kündigte das türkische Bildungsministerium grundlegende Änderungen im Geschichtslehrplan an: Der Begriff Zentralasien wird durch Turkestan ersetzt. Laut türkischen Experten soll dies dazu beitragen, die nationale Identität und den Patriotismus der Jugend zu stärken. Präsident Recep Tayyip Erdogan hob die Bedeutung der Einheit der türkischen Welt hervor: Wir werden Seite an Seite daran arbeiten, die kommende Zeit zur Ära der Türken zu machen, indem wir unsere Vision des "Türkischen Jahrhunderts durch die Organisation Türkischer Staaten verbreiten. Der Begriff Turkestan, der Heimat der Türken bedeutet, hat tiefe historische Wurzeln.

Herausforderungen für Armenien

"Ankaras zentralasiatische Initiative „Turkestan“ birgt für Armenien gewisse Risiken, da sie im Kontext der geopolitischen und ideologischen Veränderungen in der Region den Einfluss der Türkei nicht nur in Zentralasien, sondern auch im Südkaukasus verstärken könnte. Dies könnten die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen der Türkei zu Aserbaidschan festigen und die Bildung einer engeren Allianz erleichtern.

Als ein Land außerhalb der türkischen Welt und aufgrund historischer Konflikte mit der Türkei, insbesondere im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armeniern Anfang des 20. Jahrhunderts, sowie mit Aserbaidschan, könnte Armenien dadurch in eine noch verletzlichere Position geraten. Die Stärkung der türkischen Identität könnte nationalistische Gefühle in der türkischen Gesellschaft weiter anheizen, was sich negativ auf die Zukunft Armeniens und des armenischen Volkes auswirken könnte.

Zudem könnte dieser Wandel den Einfluss anderer Akteure wie Russland, das historisch eine bedeutende Rolle in Zentralasien und besonders im Südkaukasus gespielt hat, allmählich verdrängen. Sollte die Türkei das Konzept von „Turkestan“ als kulturelles und geopolitisches Zentrum der Turkvölker weiterhin aktiv fördern, könnte dies auch die Wahrnehmung Armeniens in der Region verändern, seine Isolation verstärken und seinen Einfluss weiter verringern.

Mittelfristig könnte dies Armeniens ohnehin schon schwache Verhandlungsposition in Sicherheitsfragen zusätzlich erschweren, insbesondere angesichts der angespannten Beziehungen zu Aserbaidschan, das aktiv mit der Türkei kooperiert.

Darüber hinaus könnten mit der Stärkung der türkischen Solidarität theoretisch neue Bedrohungen für Armenien durch die zentralasiatischen Länder entstehen – formelle Verbündete und Partner Armeniens in der OVKS und der GUS –, die die Türkei zunehmend als ihren wichtigsten Verbündeten ansehen könnten. Auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit spielt eine entscheidende Rolle. Wenn die Türkei und ihre Verbündeten ihre wirtschaftlichen Beziehungen im Rahmen eines neuen ideologischen Paradigmas intensivieren, könnte Armenien Einschränkungen bei Handelsmöglichkeiten, Infrastrukturprojekten und Transitrouten erfahren – genau in einer Phase, in der Jerewan nach seiner Niederlage im Karabach-Krieg 2020 auf neue Chancen hofft.

Was kann Jerewan tun, um die Bedrohung zu verringern?

Angesichts des wachsenden türkischen Einflusses in der Region kann Armenien mehrere strategische Schritte unternehmen, um seine nationalen Interessen zu schützen:

Stärkung diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen: Armenien sollte seine Beziehungen zu Staaten vertiefen, die als Gegengewicht zur türkischen Expansion dienen können, insbesondere zu Russland, Iran und einigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Die Partnerschaft mit Russland bleibt dabei von entscheidender Bedeutung, da Moskau traditionell Jerewans wichtigster Sicherheitsverbündeter ist, insbesondere im Kontext des historischen Konflikts mit Ankara und Baku.

Verstärkung internationaler Diplomatie: Armenien sollte seine Rolle in internationalen Organisationen wie die UN und, insbesondere BRICS+ ausbauen, um auf potenzielle Bedrohungen aufmerksam zu machen. Eine gut entwickelte multilaterale Diplomatie kann helfen, die allgemeinen Sicherheitsrisiken zu mindern.

Innere Stabilität und militärische Modernisierung: Ein zentraler Schritt ist die Stärkung der inneren Stabilität, die Mobilisierung der gesamten Gesellschaft, die Modernisierung der Streitkräfte und die Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit. Angesichts geopolitischer Spannungen und der Gefahr feindseliger Aktionen von Nachbarstaaten sollte sich Armenien auf den Ausbau seiner Armee konzentrieren und die militärische Zusammenarbeit mit wichtigen Partnern intensivieren, vor allem mit Russland und Iran.

Dabei könnten die armenische Sicherheits- und Militärspezialisten von den Erfahrungen des Ukrainekrieges und der Konflikte im Nahen Osten profitieren. Eine enge Zusammenarbeit mit den relevanten iranischen, syrischen und irakischen Strukturen, die direkt oder indirekt mit türkischen Militäroperationen in Nordirak und Syrien konfrontiert sind, könnte Jerewan helfen, die Logik der türkischen Militärstrategien besser zu verstehen.

Betrachten wir nun andere Möglichkeiten für Armenien

Pantamerlanismus

Die Nutzung der Ideologie des Tamerlanismus als strategisches Instrument zur Verringerung des türkischen Einflusses in Zentralasien und zur Stärkung der Rolle Usbekistans könnte für Armenien ein vielversprechender Ansatz sein, bedarf jedoch einer sorgfältigen Analyse und diplomatischer Flexibilität. Timur (Tamerlan) ist eine bedeutende historische Figur, die für das kulturelle und historische Erbe Zentralasiens, insbesondere Usbekistans, eine zentrale Rolle spielt. Sein Bild symbolisiert Macht und Einfluss in der Region. Diese Figur könnte als ideologische Grundlage dienen, um die nationale Identität Usbekistans, das auch demografisch an Bedeutung gewinnt, zu stärken und das Land als Zentrum der türkischen Welt zu positionieren – was langfristig den Führungsanspruch der Türkei in der Region einschränken könnte.

Die Förderung der Ideologie von Tamerlanismus könnte also zur Diversifizierung regionaler Einflüsse beitragen. Armenien sollte die Zusammenarbeit mit Usbekistan durch diplomatische Kanäle und kulturelle Projekte intensivieren und dabei Usbekistans historische Rolle in Zentralasien betonen. Der Tamerlanismus als Symbol unabhängiger und starker Staatlichkeit könnte helfen, eine stärkere usbekische Identität zu entwickeln und Usbekistan als zentralen Akteur in der Region zu etablieren.

Um dies zu erreichen, sollte Jerewan diesen Trend aktiv unterstützen, indem kulturelle Kooperationen und Initiativen gefördert werden, die das kulturelle Erbe Usbekistans und seine historische Rolle in der Regionalpolitik hervorheben.

Es ist wichtig, die historischen Erfahrungen der produktiven Interaktion zwischen der Armenisch-Apostolischen Kirche und den Timuriden zu berücksichtigen, die Armenien in einer schwierigen Phase halfen, seine Kirche und damit seine nationale Identität zu bewahren. Auch wenn die Timuriden dabei ihre eigenen geopolitischen Ziele verfolgten, schließt das eine das andere nicht aus.

Dieser Ansatz erfordert jedoch Vorsicht. Die Türkei baut bereits aktiv Beziehungen zu Usbekistan und anderen zentralasiatischen Staaten auf, wobei sie wirtschaftliche und politische Hebel einsetzt. Armenien muss darauf achten, dass Versuche, die internen Prozesse in diesen Ländern zu beeinflussen, keine negativen Reaktionen seitens der Türkei oder der zentralasiatischen Staaten selbst hervorrufen.

Tadschikistan

Armenien könnte den sog. Tadschikistan-Faktor nutzen, um einen potenziellen Verbündeten zu gewinnen oder zumindest den Einfluss der Türkei und der türkischen Welt in Zentralasien zu verringern. Im Gegensatz zu den meisten zentralasiatischen Ländern gehört Tadschikistan nicht zur Sprach- und Kulturgruppe der Turkvölker, da seine sog. Grundbevölkerung aus den ethnischen Tadschiken entsteht, deren Geschichte und Kultur eng mit der persischen Welt verbunden ist. Dies verleiht Tadschikistan eine besondere Stellung in der zentraalasiatischen Region und eröffnet Armenien die Möglichkeit, eine einzigartige und für beide Seiten vorteilhafte Beziehung aufzubauen, die auf den historischen, kulturellen und geopolitischen Unterschieden zu den türkischen Ländern basiert.

Erstens könnte Tadschikistan selbst durch die wachsende türkische Solidarität unter Druck, insbesondere angesichts der engen Zusammenarbeit der Türkei mit Ländern der Region, geraten. Diese Entwicklung könnte Tadschikistan dazu veranlassen, nach alternativen Verbündeten zu suchen, um den Einfluss der Türkei und anderer türkischer Staaten auszugleichen. Armenien könnte Tadschikistan eine vertiefte wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit sowie den Ausbau diplomatischer Beziehungen auf der Grundlage eines gemeinsamen Interesses an der Wahrung der Multipolarität in der Region anbieten.

Zweitens könnte eine Zusammenarbeit mit Tadschikistan auch Armeniens Position in seinem schwierigen Verhältnis zu Aserbaidschan stärken. Da Tadschikistan nicht Teil der türkischen Solidarität ist, könnte es eine neutrale Position in regionalen Konflikten einnehmen oder sogar als Vermittler agieren, insbesondere bei Problemen, in die auch Russland involviert ist. Duschanbe spielt eine zentrale Rolle für Moskau in vielen Fragen, und eine ausgewogene Haltung Tadschikistans zu sicherheitspolitischen Themen im Südkaukasus könnte Einfluss auf das Verhalten des Kremls im Interesse Armeniens haben. Mit anderen Worten: Tadschikistan könnte Armeniens Position innerhalb der von Russland dominierenden Eurasischen Union und der OVKS stärken, wenn Jerewan eine strategische Partnerschaft mit Duschanbe aufbaut. Die Effektivität dieser Partnerschaft würde erheblich höher, wenn sie in Zusammenarbeit mit Teheran entwickelt wird.

Aus wirtschaftlicher Sicht könnte Tadschikistan, als Land mit einer sich entwickelnden Wirtschaft und einer wachsenden Bevölkerung, an einer engeren Beziehung zu Armenien interessiert sein, besonders in Bereichen wie IT, Landwirtschaft und anderen Sektoren, in denen Armenien bereits positive Erfahrung hat. Eine Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen könnte die Grundlage für eine langfristige Partnerschaft bilden und Armenien neben Usbekistan einen zweiten strategischen Verbündeten in Zentralasien sichern.

Schlussfolgerung

Die Ideologie des Tamerlanismus könnte ein Instrument zur Verschiebung des regionalen Gleichgewichts werden, ihre Wirksamkeit hängt jedoch davon ab, inwieweit Armenien Soft Power und Kulturdiplomatie einsetzen kann, um Konflikte und Provokationen zu vermeiden. Die Stärkung der Rolle Usbekistans durch die Betonung seines historischen Erbes ist ein sinnvoller Schritt, aber er sollte Teil einer umfassenderen Strategie sein, die auf einer multi-vektoralen Diplomatie und einer verstärkten Zusammenarbeit mit anderen regionalen Akteuren basiert – einschließlich Tadschikistan.

Wenn Armenien Tadschikistan attraktive Kooperationsmöglichkeiten anbieten kann, könnte dies dazu beitragen, ein regionales Kräftegleichgewicht zu schaffen und den Einfluss der Türkei zu schwächen. Zudem hat Armenien aufgrund der engen Beziehungen Tadschikistans zu Russland und dem Iran eine gute Chance, diese Verbindungen zu nutzen, um multilaterale Koalitionen zu bilden, in denen Tadschikistan als Verbündeter gegen die Ausweitung des türkischen Einflusses agieren könnte. Gemeinsame Projekte mit dem Iran und Russland könnten diese Partnerschaft weiter festigen und die Bedeutung Tadschikistans in der Regionalpolitik erhöhen.

Die in diesem Beitrag dargelegten Empfehlungen und theoretischen Argumente zielen nicht darauf ab, die Türkei vollständig aus der Region auszuschließen. Sie sollen eher den Einfluss der Türkei und ihre aggressiven Ambitionen gegenüber Armenien eindämmen und das Sicherheitsniveau der armenischen Nation erhöhen. Jerewan sollte parallel dazu eigene Kanäle für die Beziehungen zu Ankara aufbauen, jedoch mit großer Vorsicht vorgehen.