„Syrisches Gambit“: Der Feind von gestern ist heute der mögliche neue Partner Moskaus

Ahmed al-Sharaa, bekannt als al-Julani und de facto Führer des heutigen Syriens sowie Hauptvertreter der (nicht nur) in Russland verbotenen Terrororganisation Hay'at Tahrir al-Sham (HTS), äußerte sich in einem Interview mit der BBC, das durch allgemeine Unbestimmtheit und einen Mangel an Einzelheiten auffällt. Dennoch verdienen einige seiner Aussagen besondere Beachtung.

Zunächst erklärte al-Sharaa, das neue Syrien habe nicht die Absicht, gegen Israel Krieg zu führen. Diese Aussage markiert einen signifikanten Wandel in der Rhetorik und eine Abkehr vom traditionellen Antagonismus, der die syrische Politik jahrzehntelang prägte. Darüber hinaus äußerte al-Sharaa den Wunsch, Beziehungen zu Russland auf der Basis gegenseitigen Verständnisses aufzubauen, wobei russische Militärstützpunkte weiterhin auf syrischem Boden bleiben könnten. Diese Bemerkung dürfte im Westen Besorgnis auslösen.

Al-Julani, der zuvor gegen die Verbündeten Russlands – das Regime von Bashar al-Assad und den Iran – kämpfte und in der russischen Rhetorik als Terrorist bezeichnet wird, signalisiert durch seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Moskau eine bemerkenswerte strategische Neuausrichtung. Mit der Anerkennung der Rolle Russlands in Syrien könnte er der internationalen Gemeinschaft zeigen, dass er nicht nur an bewaffneten Konflikten teilnimmt, sondern auch diplomatische Verhandlungen führen kann. Dies ist ein entscheidender Schritt für jemanden, der seine politische Legitimität zu festigen sucht. Russland, als einer der Hauptakteure auf der Weltbühne, hat die Möglichkeit, die globale Meinung zu beeinflussen. Al-Julani’s Signal der Kooperationsbereitschaft könnte Teil seiner Strategie sein, sich als politischer Führer zu etablieren.

Darüber hinaus könnte die Anerkennung russischer Interessen al-Julani dabei helfen, die Kontrolle über die Lage in Syrien zu sichern. Die anhaltende Präsenz russischer Stützpunkte könnte nicht nur relative Stabilität gewährleisten, sondern auch zeigen, dass sein Regime keine Absicht hat, russische Interessen aus der Region zu verdrängen. Dies könnte den Druck Russlands auf al-Julanis Streitkräfte verringern.

Ein weiterer strategischer Aspekt könnte darin liegen, das russisch-iranische Bündnis zu schwächen, das nach dem weitgehenden Zusammenbruch der Assad-Herrschaft an Einfluss in Syrien verloren hat. Indem er russische Interessen anerkennt, könnte al-Julani einen Keil in das Bündnis zwischen Moskau und Teheran treiben und Russland dazu zwingen, seine Beziehungen zu anderen Konfliktparteien – insbesondere Ankara – neu zu bewerten.

Zusammenfassend scheint Ahmed al-Sharaas Position ein bewusst gewählter strategischer Schachzug zu sein, der darauf abzielt, seinen Einfluss in Syrien zu stärken und neue Möglichkeiten für die Interaktion mit externen Akteuren zu schaffen. Seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Russland spiegelt den Versuch wider, Interessen auszugleichen, die Kontrolle zu behalten und seine Position vor dem Hintergrund einer komplexen geopolitischen Lage zu festigen.

Im Allgemeinen sind solche Aussagen eher politischer und strategischer Natur, als dass sie konkrete Absichten widerspiegeln. Al-Sharaa verfolgt möglicherweise auch eigene, enger gefasste Ziele, die hinter diesen Äußerungen stehen.

Ankaras Rolle und Ziele

Die Türkei spielt im syrischen Konflikt eine Schlüsselrolle. Sie unterstützt aktiv bewaffnete Gruppen wie Hay'at Tahrir al-Sham (HTS), um ihre Interessen in der Region durchzusetzen. Ihr Einfluss ist eng mit den Aktionen von al-Sharaa verknüpft.

Erstens nutzte die Türkei HTS und al-Sharaa als Werkzeuge, um ihre Position in Nordsyrien, insbesondere in der Provinz Idlib, zu stärken. Ankara ist nun bestrebt, seine Einflusszone in diesem Gebiet weiter auszudehnen. Die Unterstützung für al-Sharaa steht im Einklang mit der türkischen Strategie, eine Pufferzone zu schaffen, die vor allem den Einfluss Irans und der USA begrenzt. Gleichzeitig bemüht sich die Türkei, ein Gleichgewicht in den Beziehungen zu Russland zu wahren, was den versöhnlichen Ton al-Sharaas gegenüber Moskau erklären könnte.

Zweitens ist die Türkei trotz ihrer schwierigen Beziehungen zu Moskau daran interessiert, ihre wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit mit Russland aufrechtzuerhalten. Im Fall von al-Sharaa scheint es, dass Ankara diese Dynamik nutzt, um eine Kompromissbereitschaft zu demonstrieren, die beiden Seiten Vorteile bringt.

Die Interessen der Türkei in Syrien sind komplex und vielschichtig. Dies erklärt auch ihre vorsichtige Haltung gegenüber Russland, selbst nach dem Sturz des Assad-Regimes und dem Rückzug iranischer Truppen. Ankara hat gute Gründe, russische Interessen zu berücksichtigen, da dies mit seinen eigenen strategischen Zielen in der Region übereinstimmt. Die Stabilität und regionale Sicherheit bleiben für die Türkei oberste Prioritäten. Ankara hat kein Interesse an dem Chaos, das ein Machtvakuum nach Assad hervorrufen könnte. Russland könnte eine entscheidende Rolle bei der Schaffung einer neuen Ordnung spielen und so ein Machtvakuum im Interesse von Ankara verhindern. Dies wäre insbesondere wichtig, um die Stärkung kurdischer Formationen oder radikaler Gruppen zu verhindern, die die Türkei als Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit betrachtet.

Die Bekämpfung des kurdischen Einflusses ist ein zentraler Bestandteil der Syrien-Strategie Ankaras, die darauf abzielt, die Entstehung eines unabhängigen kurdischen Staatsgebiets in Nordsyrien zu verhindern. Auch dabei spielt der russische Einfluss in der Region eine wesentliche Rolle bei der Eindämmung kurdischer Ambitionen. Die Partnerschaft mit Moskau ermöglicht es der Türkei und der unter ihrer Schirmherrschaft operierenden al-Sharaa, ihre Position im Kampf gegen die kurdischen Kräfte zu stärken und gleichzeitig eine offene Konfrontation mit dem Westen, der die Kurden unterstützt, zu vermeiden.

Auch die wirtschaftliche und energiepolitische Abhängigkeit der Türkei von Russland ist ein entscheidender Faktor für Ankaras pragmatischen Ansatz. Russland liefert einen erheblichen Anteil des von der Türkei benötigten Erdgases und ist am Bau zentraler Energieprojekte wie dem Kernkraftwerk Akkuyu beteiligt. Zudem profitiert die Türkei von Exporten nach Russland sowie vom Zustrom russischer Touristen. Diese wirtschaftlichen Verflechtungen zwingen Ankara dazu, ein ausgewogenes Verhältnis in den Beziehungen zu Moskau zu wahren.

Ankara’s Angst vor dem Westen

Auf geopolitischer Ebene versucht die Türkei, zwischen dem Westen, Russland und dem Nahen Osten zu manövrieren. Darüber hinaus strebt die Türkei an, ihre außenpolitische Unabhängigkeit zu bewahren und sich nicht vollständig vom Westen abhängig zu machen.  Angesichts der Spannungen mit den USA, insbesondere aufgrund deren Unterstützung der Kurden, nutzt Ankara die Zusammenarbeit mit Moskau als Druckmittel gegenüber seinen westlichen Verbündeten.

Die Türkei befürchtet, dass ein möglicher Rückzug Russlands aus Syrien zu einer Stärkung des westlichen Einflusses in der Region führen könnte. Diese Sorge prägt maßgeblich Ankaras Haltung. Die Unterstützung für die Aufrechterhaltung russischer Marinestützpunkte in Syrien ist Teil der türkischen Strategie, die Dominanz der USA und der EU in der Region einzudämmen. Historische Erfahrungen mit westlichen Interventionen im Irak und in Libyen, die Chaos und die Stärkung radikaler Bewegungen zur Folge hatten, verstärken diese Befürchtungen.

Russland agiert mit seiner Militärpräsenz in Syrien als wichtiges Gegengewicht zum Westen, begrenzt dessen Einfluss und reduziert das Risiko einer unipolaren Kontrolle über die Region. Durch die Beibehaltung russischer Stützpunkte kann die Türkei verhindern, dass die USA oder die EU über die künftige politische Struktur Syriens bestimmen. Zugleich verschafft diese Konstellation Ankara außenpolitischen Spielraum.

Die Türkei hat ein Interesse daran, die Präsenz russischer Stützpunkte in Syrien zu erhalten, da diese nicht nur die Stärkung iranischer und kurdischer Formationen einschränkt, die Ankaras strategische Interessen bedrohen, sondern auch der westlichen Verbündeten. Selbst eine begrenzte russische Präsenz in Syrien reduziert den Handlungsspielraum der USA am Boden sowie Israels im Luftraum von Syrien. Dies mag paradox erscheinen, doch Moskau, das kein Verbündeter der Türkei ist, stellt für Ankaras strategische Interessen keine unmittelbare Bedrohung dar – im Gegensatz zu den USA, einem NATO-Verbündeten. Diese Überlegungen deuten darauf hin, dass die Aussagen al-Sharaas Teil einer umfassenderen türkischen Strategie sein könnten, die darauf abzielt, externe – für Ankara gefährliche - Einflussfaktoren zu minimieren.

Al-Sharaas Rhetorik spiegelt somit nicht nur seine eigenen Ziele wider, sondern auch die strategischen Überlegungen der Türkei: Dadurch sichert Ankara seinen Einfluss in der Region und agiert als ausgleichender Akteur zwischen verschiedenen Konfliktparteien, darunter Russland, Iran, Israel und die Vereinigten Staaten.

Die enge Bindung an Russland verschafft Ankara mehr Handlungsfreiheit im Syrien-Konflikt und verringert den Druck seitens der USA und der EU.

Kurzes Fazit der konkurrierenden aber gegenseitig nützlichen Zusammenarbeit zwischen Ankara und Moskau

Aufgrund seiner militärischen Präsenz in Syrien und seines Einflusses bleibt Russland ein wichtiger Partner für die Türkei. Ankara ist sich bewusst, dass es durch die Zusammenarbeit mit Moskau seine strategischen Ziele wirksam erreichen kann: die Eindämmung kurdischer Formationen, die Kontrolle der Flüchtlingsströme und die Stärkung seiner Position in der Region. Ungeachtet der Veränderungen der geopolitischen Lage bleibt Russland für die Türkei ein bedeutendes Element der Stabilität und des Machtgleichgewichts. Vor diesem Hintergrund erscheint die Unterstützung des Erhalts der russischen Stützpunkte in Syrien als pragmatischer Schritt, der Ankaras Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Moskau widerspiegelt und seine Position in der Regionalpolitik stärkt.

Für die Türkei ist die Unterstützung russischer Stützpunkte in Syrien nicht nur ein Instrument zum Schutz nationaler Interessen, sondern auch eine Möglichkeit, den westlichen Einfluss einzudämmen und ihre Rolle in der Region zu stärken. Mithilfe dieser Strategie kann Ankara eine Balance zwischen den wichtigsten globalen Akteuren herstellen und zugleich ein wichtiger und unabhängiger Akteur im Syrien-Konflikt bleiben.

Diese Taktik der Türkei kommt auch Moskau selbst zugute, insbesondere im Kontext der globalen Konfrontation mit den USA und der EU an der „ukrainischen Grenze“. Russlands Militärstützpunkte in Syrien, wie jene in Tartus und Khmeimim, spielen eine wichtige Rolle bei der Sicherstellung der Präsenz seiner Marine- und Luftwaffe und dienen zugleich als Transitpunkte auf der Route von und nach Afrika. Ob in Damaskus Asad herrscht, oder al-Sharaa spielt für Moskau keine Rolle.

Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass die russische Präsenz in Tartus nicht nur dank der Zustimmung des syrischen Asad-Regimes, sondern auch mit stiller Unterstützung der Türkei möglich wurde. Die meisten Schiffe der russischen Marine erreichten Tartus über den Bosporus, während Militärtransportflugzeuge auf ihrem Weg nach Khmeimim den türkischen Luftraum durchquerten.

Somit überschneiden sich die Interessen der Türkei und Russlands in Syrien und bilden die Grundlage für eine pragmatische Zusammenarbeit, die beiden Seiten zugutekommt.

 

Die oben genannten Beschreibungen stellen lediglich Überlegungen und Prognosen dar. Wie sich die Ereignisse vor Ort entwickeln werden, werden wir in Zukunft sehen.

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