Der Ausgang der 44 Tage dauernden Waffengänge um Berg-Karabach 2020 veränderte das seit 1994 bestehende Gleichgewicht zwischen Armenien und Aserbaidschan und damit den Status quo im Südkaukasus. Besonders entsetzlich war es für den armenischen Staat, dessen Verteidigungssystem sehr schmerzhafte Verluste erzielen müsste. Die armenische Nation, die 1991 ihre Unabhängigkeit erreicht hatte, büßte durch diese Niederlage ihre Vision für die politische Zukunft des eigenen Landes ein. Allein der Kriegsausbruch zeigte wiederum, dass der für die Friedenssicherung kompetente UN-Sicherheitsrat nicht fähig war, effizient zu reagieren. Drei Versuche der Ko-Vorsitzenden der OSZE Minsk-Gruppe die Waffenruhe zu schaffen, scheiterten. Vor der kompletten Eroberung von Berg-Karabach rettete das von Russland vermittelte Abkommen vom 9. November 2020, mit dem eine ca. 2.000 Mann starke russischen Friedensmission in der Region eingesetzt wurde. Ferner verstärkte der Krieg den türkischen Einfluss im Südkaukasus. Wie geht es nun für den armenischen Staat und im Blick auf die friedliche Beilegung des Konfliktes weiter? Wofür engagieren sich die externen Akteure und welche Herausforderungen für die Wiederherstellung eigener Sicherheit sind von Jerewan und Stepanakert noch zu bewältigen?
- Einführung
Der Ausgang der 44 Tage dauernden Waffengänge um Berg-Karabach 2020 veränderte das seit 1994 bestehende Gleichgewicht zwischen Armenien und Aserbaidschan und damit den Status quo im Südkaukasus. Besonders entsetzlich war es für den armenischen Staat, dessen Verteidigungssystem sehr schmerzhafte Verluste erzielen müsste. Die armenische Nation, die 1991 ihre Unabhängigkeit erreicht hatte, büßte durch diese Niederlage ihre Vision für die politische Zukunft des eigenen Landes ein. Allein der Kriegsausbruch zeigte wiederum, dass der für die Friedenssicherung kompetente UN-Sicherheitsrat nicht fähig war, effizient zu reagieren. Drei Versuche der Ko-Vorsitzenden der OSZE Minsk-Gruppe die Waffenruhe zu schaffen, scheiterten. Vor der kompletten Eroberung von Berg-Karabach rettete das von Russland vermittelte Abkommen vom 9. November 2020, mit dem eine ca. 2.000 Mann starke russischen Friedensmission in der Region eingesetzt wurde. Ferner verstärkte der Krieg den türkischen Einfluss im Südkaukasus. Wie geht es nun für den armenischen Staat und im Blick auf die friedliche Beilegung des Konfliktes weiter? Wofür engagieren sich die externen Akteure und welche Herausforderungen für die Wiederherstellung eigener Sicherheit sind von Jerewan und Stepanakert noch zu bewältigen?
Zur Klarstellung sei zunächst angemerkt, dass im vorliegenden Beitrag mit der Region Südkaukasus die drei Staaten Georgien, Armenien und Aserbaidschan sowie die drei international nicht anerkannten bzw. teilanerkannten Entitäten Abchasien, Südossetien und
Arzach (Berg-Karabach) gemeint sind. Das gesamte Gebiet umfasst etwa 187.000 Quadratkilometer, was etwa der Hälfte der Fläche der Bundesrepublik Deutschland entspricht. Die Gesamtbevölkerung beträgt nach Angaben der UN1 etwa 17 Millionen Einwohner, wovon circa 10 Millionen allein in Aserbaidschan leben.
Im ›weiten Sinne‹ umfasst die Region auch die Türkei, den Iran und Russland. Für diese drei Akteure ist jene vor allem unter dem Gesichtspunkt wichtig, die eigenen nationalen Interessen im 21. Jahrhundert zu sichern und die wirtschaftlichen und militärpolitischen Einflüsse auszubauen. Zu beachten ist auch, dass die Region – zumindest ein Großteil davon – als fester Bestandteil der jeweils eigenen Einflusszone wahrgenommen wird, da sie bis Anfang des 20. Jahrhunderts unter der wechselnden Souveränität der genannten Staaten stand. Mit anderen Worten: Vor allem der Iran und Russland sind mit dieser Region historisch-kulturell und historisch-politisch verbunden. Die Gebiete der heutigen Republiken Armenien, Arzach und Aserbaidschan sowie der größte Teil Georgiens gehörten zum Persischen Reich und fielen spätestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts infolge mehrerer russisch-persischer Kriege an das Russische Reich.
Um die nach dem Krieg von 2020 in der Region entstandene Situation umfangreich zu verstehen, ist es empfehlenswert, zumindest kurz auf die zuvor in ihr bestehende Sicherheitslage einzugehen, wobei der Schwerpunkt in diesem Beitrag auf Armenien und Arzach gelegt wird.
II. Die Situation in der Region vor dem Krieg 2020
Die aktuelle Phase des Konflikts um Berg-Karabach begann im Jahr 1988. 1991 versuchte Berg-Karabach, mit gerade einmal 150.000 Einwohnern und von vier Seiten umzingelt, sich gegen das damals über 6 Millionen Einwohner zählende Aserbaidschan zu verteidigen. In Armenien erkannte man die akute Bedrohung für die Bevölkerung Berg-Karabachs, vertrieben und ausgerottet zu werden. Man traf daher die Entscheidung, sich an den Verteidigungsoperationen zu beteiligen. Zunächst mit Freiwilligenverbänden – später unter Teilnahme regulärer Truppen. Infolge der erfolgreichen militärischen Operationen der armenischen Seite war die Führung Aserbaidschans gezwungen, Anfang Mai 1994 unter Vermittlung Russlands einen unbefristeten Waffenstillstand mit Armenien und Arzach zu unterzeichnen, wodurch eine völlig neue, deutlich andere sicherheitspolitische Lage als 1991 in der Region entstand. Vor Beginn des Krieges betrug die Länge der armenisch-aserbaidschanischen Grenze etwa 566 km (ohne die 221 km lange Grenze mit Nachitschewan). Nun wurde sie deutlich verkürzt, denn von der armenischen Stadt Wardenis bis zur armenisch-iranischen Grenze verlief jetzt die armenisch-karabachische Grenze, wo keine armenischen Truppen stationiert waren. Die armenische Seite brauchte sich keine Sorge mehr um die Sicherheit ihrer Ostgrenze im erwähnten Abschnitt zu machen. Das offizielle Jerewan baute sein Sicherheitssystem zusammen mit der Verteidigungsarmee von Arzach entlang der östlichen Grenze, bzw. Kontaktlinie zwischen Aserbaidschan und Arzach aus. Mit anderen Worten, ein einheitliches armenisches Sicherheitssystem begann auf den Gebieten von etwa 30.000 Quadratkilometern (Armenien) und etwa 12.000 Quadratkilometern (Arzach) zu operieren, wo die für die innere und äußere Sicherheit zuständigen Behörden eng abgestimmt miteinander kooperierten.
Zwischen Jerewan und Stepanakert harmonierte zudem ein einheitliches Wirtschafts- und Währungssystem. Das den arzachischen Behörden unterstehende Gebiet war somit im Wesentlichen offen für armenische Geschäftsleute, Investitionen usw. Außenpolitisch vertrat die armenische Regierung die Interessen Arzachs und mit den in Berg-Karabach stationierten Truppen galt Jerewan als Hauptgarant für die Sicherheit der ansässigen Bevölkerung.
III. Die Sicherheitslage nach dem Krieg von 2020
III.I. Die Ergebnisse des Krieges 2020 und die neugeschaffene rechtliche, politische und sicherheitsmilitärische Situation
Durch die groß angelegte Offensive, die von Baku am 27. September 2020 begonnen wurde, gelang es den aserbaidschanischen Streitkräften, die Kontaktlinie im südöstlichen Abschnitt zu durchbrechen und binnen weniger Wochen die international anerkannte Grenze der Republik Armenien zu erreichen. Später, als die aserbaidschanische Armee Anfang November die Stadt Schuschi besetzte und die Verteidigung von Stepanakert massiv bedroht war, wurden die Militäroperationen dank intensiver diplomatischer Schritte der russischen Seite am 9. November 2020 durch die Vereinbarung3 über eine Waffenruhe gestoppt. Gemäß dieser Vereinbarung musste die armenische Seite Aserbaidschan mehr Gebiete abtreten, als es durch den militärischen Einsatz innerhalb von 44 Tagen gewaltsam erobern konnte. Infolgedessen büßte Arzach auch die direkte Landesverbindung zu Armenien ein.
Arzach verlor so viele Territorien, dass eine normale Weiterentwicklung der Infrastruktur und des eigenen Wirtschaftssystems sowie die Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Energieversorgung und Ernährungssicherheit kaum noch möglich ist. Wegen des vollständigen Abzuges der Einheiten der armenischen Verteidigungsarmee, aber auch wegen
fehlender eigener Ressourcen ist Arzach nicht in der Lage, die für die Gewährleistung der Sicherheit der eigenen Bevölkerung benötigten Verteidigungseinheiten bereitzustellen. Die zerstörte oder verloren gegangene Militärtechnik kann unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Situation und des rechtlichen Status des Landes in absehbarer Zeit nicht wieder beschafft werden. Zusammenfassend muss man festhalten, dass Arzach nicht mehr in der Lage ist, die eigene Sicherheit angemessen zu organisieren.
Die offiziell mit 1.960 Soldaten in der Region stationierte russische Friedensmission ist nach der Vereinbarung vom 9. November 2020 berechtigt, für einen Zeitraum von 5 Jahren im nicht von den aserbaidschanischen Behörden kontrollierten Gebiet von Arzach zu operieren, um die Existenzsicherheit der dort lebenden armenischen Bevölkerung zu gewährleisten. Die einzige physische Verbindung zwischen Armenien und Arzach bildet seitdem der sogenannte ›Lachin-Korridor‹, der unter der Kontrolle der russischen Friedenstruppen steht.
III.II. ›Die Friedensepoche‹: neue Strategie der Republik Armenien und innenpolitische Lage als staatliche Sicherheitslücke
Die aktuell mangelhafte Verhandlungsfähigkeit Armeniens wird nicht nur durch die militärische Niederlage im Krieg 2020, sondern auch durch die innenpolitische Situation verschärft. (Stand: Sommer 2022) 43 Tage lang berichtete die armenische Regierung täglich und überzeugend über die erheblichen Verluste des Gegners und den zweifellosen Sieg der armenischen Verteidigungsarmee. Am 44. Kriegstag stellte sich die armenische Gesellschaft der harten Realität: ein großer Teil von Arzach, darunter die symbolisch bedeutsame Stadt Schuschi, waren verloren, und das armenische Militär musste sich aus weiten Gebieten zurückziehen. Ein, zwei Tage später sollten die Armenier die traumatisch hohe Zahl der gefallenen Soldaten ihrer Armee erfahren.
All dies führte zu tiefstem Misstrauen in der Gesellschaft gegenüber den Behörden und der Staatsführung. Trotzdem gelang es der zunächst politisch gelähmten Führung, Schritt für Schritt wieder zu erstarken und die Kontrolle über das politische Leben des Landes zurück zu erlangen. Sie wählten eine riskante, aber retrospektiv betrachtet richtige Taktik: sie zogen 2021 eine außerordentliche Parlamentswahl vor und legitimierten die Regierung damit für die schwierige Nachkriegssituation. In Bezug auf die Innenpolitik gelang es den Behörden, die wichtigsten Oppositionskräfte, die seit dem 9. November 2020 – dem Ende der intensiven Waffengänge – auf den Straßen protestierten und eine potenzielle Bedrohung für die Regierungsführung darstellten, ins Parlament zu bringen und dadurch die Gefahr einer Machtübernahme von der Straße aus zu beseitigen. Darüber hinaus gelang es der armenischen Führung, außenpolitisch die internationalen Partner zu überzeugen, dass sie auch nach der militärischen Niederlage berechtigt ist, im Namen des armenischen Volkes zu sprechen und notfalls auch ›schmerzhafte Zugeständnisse‹ zu machen.
Nun stabilisierten die Wahlen im Jahr 2021 zwar, wie erwähnt, die Führung, konnten aber bisher zur Bildung eines innenpolitischen Dialoges zwischen den regierenden und oppositionellen Kräften nicht beitragen. Die Gesellschaft in Armenien bleibt weiterhin gespalten. Die Tatsache, dass weder die Regierung noch die Opposition in der Lage sind, der Öffentlichkeit zu erklären, wie sie sich die Gewährleistung der Sicherheit und Weiterentwicklung Armeniens und Arzachs vorstellen, wirkt sich negativ auf das Sicherheitssystem des Landes aus. Zusätzlich hat die armenische Gesellschaft nach der Niederlage ein psychologisches Problem, das sie daran hindert, die Realität umfassend wahrnehmen und sich über die nächsten Schritte zur Weiterentwicklung der Republik Armenien zu einigen.
Zur schmerzhaften Realität gehört die Tatsache, dass die Republik Armenien seit dem Ende der Waffengänge von 2020 nicht mehr der Garant für die Sicherheit von Arzach ist. Ferner ignoriert die Staatsregierung die eigene in 2007-2015 entwickelte und zuletzt im Juli 2020 geänderte und formell immer noch geltende Militärdoktrin sowie die Nationale Sicherheitsstrategie, ohne eine neue zu entwickeln. Stattdessen wird seitens der politischen Führung des Landes über die Agenda der sogenannten ›Friedensepoche‹ gesprochen. Diese war im Wahlprogramm 2021 zu hören, allerdings handelt es sich dabei nicht um ein klar formuliertes und vom Parlament bewilligtes Dokument. Dennoch ergeben sich aus den veröffentlichten Stellungnahmen, Pressekonferenzen und Reden der armenischen Regierungs- und Parlamentsvertreter bezüglich der Verhandlungen mit den internationalen Partnern zwei relevante Punkte:
1. Die Anerkennung der territorialen Integrität Aserbaidschans und der Abschluss eines Friedensvertrages mit Baku. Aus rechtlicher Sicht wird dieser Schritt die über 30 Jahre dauernden Bemühungen des offiziellen Jerewan, die internationale Anerkennung von Arzach zu unterstützen, dauerhaft hindern. Mit dieser Tatsache hat man sich in Jerewan scheinbar abgefunden: Nach Auffassung der armenischen Führung solle man die armenische Latte bei der Statusfrage von Arzach ein wenig niedriger legen. Anders gesagt, es seien so gut wie alle Möglichkeiten, Arzach einen Status außerhalb der aserbaidschanischen Staatlichkeit zu gewähren, erschöpft.
2. Die Verbesserung bzw. Wiederherstellung der Beziehungen zur Türkei ohne Vorbedingungen. Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, dass die Türkei, die nur unter Vorbedingungen sogar an den NATO-Sitzungen teilnimmt bzw. den Entscheidungen zustimmt, irgendein Dokument mit Armenien ohne Vorbedingungen unterzeichnen wird. Die relevanteste Vorbedingung, die bei der Ratifizierung der unterzeichneten Protokolle von 2009 im Wege stand, ist weitgehend erfüllt: armenische Truppen stehen nicht mehr in Arzach und der Konflikt um Berg-Karabach ist aus aserbaidschanischer Sicht erledigt. Die restlichen Voraussetzungen kann die Türkei durch die bilateralen Verhandlungen mit Armenien6 Schritt für Schritt erreichen. Die Türkei muss sich dabei nicht beeilen, denn ihre aktuelle Entwicklung hat wenig mit der Unterzeichnung oder Nichtunterzeichnung von Dokumenten mit Armenien zu tun.
Ein fester Bestandteil der Agenda der Friedensepoche7 ist die Aufhebung von Blockaden auf den Verkehrswegen in der Region,8 die wiederum durch die Vereinbarung vom 9. November 2020 fixiert wurde. In der Praxis wird über die Eröffnung von asphaltierten Landstraßen sowie Eisenbahnlinien gesprochen, die Aserbaidschan mit der Türkei durch das südliche Territorium Armeniens verbinden können.
Die Verbindungsstraßen, die Aserbaidschan als ›Korridor‹ bezeichnet, werden meines Erachtens Armenien im Großen und Ganzen außer Schaden nichts bringen. Selbst wenn von den türkischen oder aserbaidschanischen Frachtunternehmen Gelder in Form von Zöllen oder Gebühren in den Staatshaushalt Armeniens fließen, wird dies die Gefahr für die nationale Sicherheit Armeniens nicht kompensieren. Im Laufe der Zeit wird dieser Weg zur verstärkten Besiedlung durch die türkischsprachige Bevölkerung in den dünnbesiedelten Gebieten Armeniens führen, was eine Grundvoraussetzung für die weitere Besetzung und weitere Zerstörung der armenischen Staatlichkeit durch die für den armenischen Völkermord verantwortliche und dieses Geschehen bis heute leugnende Türkei sowie Aserbaidschan darstellt.
IV. Die Rolle und Position der Externen Akteure
IV.I. Die Position und die Rolle der Russischen Föderation
Die Eröffnung der Verbindungswege scheint im Interesse mehrerer externer Akteure zu sein, einschließlich der USA und der Europäischen Union sowie Russlands, dem eigentlichen strategischen Verbündeten Armeniens.
Von zentraler Bedeutung wäre für Russland die Eröffnung einer Eisenbahnverbindung, wodurch Güter aus dem russischen Nordkaukasus durch die aserbaidschanischen Kerngebiete entlang des Kaspischen Meers und durch Armenien entlang des Aras-Flusses in die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan, weiter in die Türkei und umgekehrt transportiert werden können. Zudem wird der Import russischer Waren nach Armenien über das Territorium Aserbaidschans die Effizienz der Bemühungen Moskaus erhöhen, Jerewan und Baku unter eigener Schirmherrschaft einander näher zu bringen.
Russland profitiert politisch nicht nur dadurch, dass diese Verbindungsstraßen in Armenien von russischen Grenzschutzkräften kontrolliert werden,9 sondern auch, weil es dadurch die Bedeutung Georgiens als Verbindungsland zwischen dem NATO-Staat Türkei und Aserbaidschan deutlich verringert. Diese Realität wäre auch nicht im Interesse Irans, denn die Islamische Republik dient seit über 30 Jahren als Verbindungsland zwischen dem aserbaidschanischen Kernland und der Exklave Nachitschewan und profitiert dadurch, genau wie Georgien, wirtschaftlich bzw. stärkt ihre militärpolitische Rolle in der Region.
Seit 1992 ist Russland vertraglich verpflichtet die äußere Sicherheit Armeniens zu garantieren, 10 bzw. die Staatsgrenzen zu schützen, wobei es um die Staatsgrenzen der ehemaligen Sowjetunion geht. Um den Schutz der eigenen Grenzen zu Georgien und Aserbaidschan sollte sich Jerewan selbst kümmern. Aber da Armenien seit Ende 2020 nicht mehr in der Lage zu sein scheint, die Sicherheit seiner Grenzen zu Aserbaidschan vollständig zu gewährleisten, errichtete Russland zusätzliche Militärstellungen an den genannten Grenzen.
Darüber hinaus gewährleistet Russland mit der erwähnten Vereinbarung vom 9. November 2020 auch die Sicherheit der armenischen Bevölkerung in Arzach. Dabei sorgt Armenien für die Sicherheit der armenischen Bevölkerung in Arzach bis zu einer dauerhaften Beilegung des Konflikts, wobei man in Jerewan immer von einer umfassenden Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des Volkes von Arzach ausging bzw. diese absicherte. Russland garantierte hingegen lediglich die Existenz der armenischen Bevölkerung in dieser Region. Die internationale Anerkennung von Arzach steht nicht auf der politischen Agenda Moskaus!
IV.II. Position und Engagement der Westlichen Staaten
Problematisch für Armenien scheint auch die Tatsache, dass die Ergebnisse des Krieges 2020 aus geopolitischer Sicht im Grunde genommen auch im Interesse des Westens liegen, lediglich abgesehen von der Präsenz russischer Truppen in Arzach.
Ein Beispiel dafür aus Berlin: Im Rahmen einer aktuellen Stunde des Deutschen Bundestages vom 26. November 2020 zur Unterstützung der Entwicklung einer langfristigen Friedenslösung in Berg-Karabach äußerte sich ein Abgeordneter der damaligen Regierungsfraktion CDU/CSU in seiner Rede wie folgt: »Was wir in 27 Jahren internationaler Verhandlungsbemühungen nicht erreicht haben, wurde binnen sechs Wochen in Teilen erreicht.«
Die Errichtung einer Landverbindung zwischen der Türkei und Aserbaidschan durch das Territorium Armeniens liegt auch im geopolitischen Interesse des Westens weil dadurch der Nato-Mitgliedstaat Türkei einen direkten Zugang zum einzigen strategischen Verbündeten Russlands in der Region bekäme, wodurch die NATO ihre Position im Südkaukasus weiter stärken könnte. Das wiederum wäre aber weder im russischen noch im iranischen Interesse.
In diesem Zusammenhang begann ein Wettlauf zwischen Moskau und dem Westen, Jerewan und Baku zusammenzubringen, wobei der Westen für Jerewan aus wirtschaftlicher Sicht ein viel effektiverer Partner als Russland sein könnte, was ein gutes, aber nicht erschöpfendes Argument für die gewünschte Reduzierung des russischen Einflusses in der Region ist. Der Westen muss Armenien nahe legen, dass es Russland nicht mehr braucht, weil es keine äußere Bedrohung mehr gibt. Ein Friedensvertrag zwischen Jerewan und Baku, in dem die Karabach-Frage komplett beigelegt würde, und die vollständige Normalisierung der armenisch-türkischen Beziehungen wären dafür die Grundvoraussetzungen.
Die genannten Verträge braucht Russland auch, aber mit einer bestimmten Einschränkung: Die Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan habe mit der Beilegung des Konfliktes um Berg-Karabach nichts zu tun. In dieser Situation entspricht die Forcierung der Ereignisse bzw. die de-jure Normalisierungen der Beziehungen zwischen Jerewan und Ankara sowie zwischen Jerewan und Baku den russischen Interessen nicht, da Moskau den weiteren Aufbau eigener Militärpräsenz im Südkaukasus beabsichtigt. Gleichzeitig ist es für den Westen nicht dienlich, die regionale Bedeutung Georgiens durch die armenischen Verbindungsstraßen zu reduzieren, weil dies weitere negative Folgen hätte. Ein wirtschaftlich und politisch schwaches Georgien könnte in absehbarer Zeit an Russland und die Türkei verloren gehen. Zur Realisierung solcher Pläne könnte ebenfalls der Vorschlag der Türkei bezüglich der Bildung eines 3+3 Kooperationsformats (Georgien, Aserbaidschan, Armenien und Türkei, Iran, Russland) dienen. Zwar wurde dieser von allen Akteuren formell akzeptiert, liegt aber zurzeit noch auf Eis.
Aktivitäten der westlichen Mächte in der Region, vor allem der Vereinigten Staaten in Armenien sowie des Staates Israel in Aserbaidschan könnten seitens des Iran als existenzielle Bedrohung wahrgenommen werden. Dennoch wird Teheran voraussichtlich weiterhin eine zurückhaltende und vorsichtige, gleichzeitig aber auch aktive Politik in der Region führen und die Interessen von Moskau und Ankara immer mit berücksichtigen. Auch militärische Schritte sind seitens des Irans allerdings nicht vollständig auszuschließen.
V. Fazit
Da Armenien Arzach als eigenständigen Staat nie anerkannte, konnte es auch die armenisch besiedelten Gebiete, die Aserbaidschan im Laufe des Krieges 2020 eroberte, nicht als besetzt betrachten. Im Ernstfall kann das in Arzach offiziell 1.960 Mann umfassende russische Militärkontingent das nicht anerkannte Land kaum schützen. Die östlichen und südwestlichen Grenzen der Republik Armenien sind mangelhaft gesichert bzw. teilweise völlig ungeschützt. Weder personell noch militärisch-technisch ist Armenien in der Lage, sich gegen eine höchstwahrscheinliche aserbaidschanische und von der Türkei unterstützte Aggression zu wehren.
Aus den Ausführungen ergibt sich, dass für Armenien und Arzach, das heißt für die armenische Ethnie, eine beispiellos schwierige Situation geschaffen wurde: Es gibt keinen Verbündeten oder Partner, der bereit wäre, Armenien bei der Umsetzung der Programme im Sinne der armenischen nationalen Interessen zu unterstützen. Denn alle Vorschläge, die Jerewan nach dem 9. November 2020 von Moskau oder dem Westen unterbreitet wurden, stellen im besten Falle eine vorübergehende Lösung dar und berücksichtigen die armenischen nationalen Interessen nicht. Darüber hinaus sind die Vorschläge, die sowohl von Moskau als auch vom kollektiven Westen vorgelegt werden, auch situativ. Wenn der Lösungsvorschlag aus irgendeinem Gesichtspunkt den Interessen der Seite, die den Vorschlag vorlegt, entspricht, dann kann er sich aufgrund der Situation, die sich während der Umsetzung des gegebenen Vorschlags ergibt, den Interessen derselben Seite widersetzen. Die erwähnte Situation kann sich erst nach dem Ende der in der Ukraine am 24. Februar 2022 begonnenen Entwicklungen ändern.
Bis dahin scheint aber problematisch für die armenische Seite, dass Baku und Ankara diese Situation höchstwahrscheinlich nutzen werden, um ihre eigenen Interessen so weit wie möglich voranzutreiben. In dieser historischen Situation ergibt sich aus den armenischen nationalen Interessen die Notwendigkeit maximaler Wachsamkeit des offiziellen Jerewan und die diplomatische Vermeidung von endgültigen schriftlichen Vereinbarungen.
Eine totale nationale Katastrophe wird somit immer wahrscheinlicher. Zu deren Abwendung sollten alle Teile der armenischen Gesellschaft, inklusive der Oppositionskräfte zusammenstehen und mit äußerster Kraft mit allen außenpolitischen Partnern verhandeln, um eine, wenn auch vorübergehende, Lösung zu finden, die die Bewahrung der eigenen Souveränität und die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit innerhalb des völkerrechtlich anerkannten Staatsgebietes der Republik Armenien und den armenisch besiedelten Gebieten von Arzach garantieren wird.
Gleichzeitig sollte Jerewan alle seine Ressourcen mobilisieren, denn Baku und Ankara könnten versuchen, ihre Interessen auch mit militärischer Gewalt durchzusetzen, wie es im Herbst 2020 geschehen ist.
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Dieser Beitrag ist Teil der Publikation "Das kulturelle Erbe von Arzach: Armenische Geschichte und ihre Spuren in Berg-Karabach".
https://doi.org/10.38072/978-3-928794-95-4/p15
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